Seit Juni letzten Jahres gehen in Hongkong immer wieder Hunderttausende vor allem junge Menschen auf die Straße. Doch in den chinesischen Medien wird von diesen Protesten nicht berichtet. Das und wie gefährlich Kritik am System sein kann, erfuhr unser Gastautor Tim Schröder während seines einjährigen Aufenthalts in China.
Im ersten Teil seines Gastbeitrags für den C4B Blog hat Tim Schröder für uns einen Blick auf die Geschichte Chinas geworfen. Der zweite Teil und der vorliegende letzten Teil seines Beitrags drehen sich um seine Erfahrungen mit den Menschen und der gesellschaftlichen Situation in China.
Überwachung überall
Bei uns wird der gesellschaftliche Dialog sehr durch die Medien getragen. In China gibt es keine Nachrichtenagentur, die nicht unter Kontrolle der kommunistischen Partei steht. Soziale Medien, außer die staatlich Regulierten, sind verboten. Webseiten wie Google, Facebook oder Wikipedia sind gesperrt. Zusätzlich wird bis 2020 das sogenannte Social-Credit-Score System eingeführt. Dieses System hat den Zweck, Kredite unter Berücksichtigung von sozialem Verhalten zu vergeben. Es wird bewertet, was man einkauft, ob man bei Rot über die Ampel geht oder wie häufig man die Eltern besucht. Es soll die Bürger zu „optimalen“ Verhalten erziehen. Kameras hängen überall und die Gesichtserkennung ist inzwischen sehr zuverlässig. Digitale Zahlungssysteme, die praktisch über das Handy funktionieren, können gut überwacht werden. Ich habe mich während meines Aufenthalts häufig gefragt: Warum wehren sich die Menschen nicht gegen die totalitäre Staatsform? Warum gehen die jungen Menschen nicht auf die Straße wie es in Hongkong der Fall ist?
Beeindruckende Demonstration der staatlichen Medien
Zum einen gab es in China noch nie Demokratie, wie wir sie kennen. Von der damaligen Monarchie ging es sehr direkt in das heutige sozialistische Ein-Parteien-System über. Die Menschen sind weder an Meinungs-, Presse-, noch Demonstrationsfreiheit gewöhnt. Im Moment betreue ich eine chinesische Austauschstudentin an der TU Berlin. Als wir am Brandenburger Tor an einigen Demonstranten vorbei gingen, fragte sie mich, ob ich so etwas nicht für gefährlich halte. Es war mir nicht möglich, ihr die Sinnhaftigkeit der Demonstrationsfreiheit zu erklären. Hongkong wird nach dem politischen Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ regiert, bürgerliche Freiheiten wie die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit werden den Menschen garantiert. Deshalb sieht man regelmäßig in den Nachrichten, dass die Menschen dort protestieren, denn sie wissen, was sie zu verlieren haben. Ich war zu Beginn der Hongkong-Proteste noch auf dem chinesischen Festland – dort hat man jedoch kein Sterbenswörtchen davon gehört. Eine beeindruckende Demonstration des Medienapparats. Selbst eine Nachricht eines deutschen Kommilitonen auf WeChat (das chinesische Facebook-Äquivalent), die den Link zu einem Nachrichtenartikel enthielt, wurde innerhalb von Minuten aus dem System gelöscht und der Zugang meines Freundes vorübergehend gesperrt.
Ich musste lernen, dass sich zur scheinbaren Unveränderlichkeit des Systems eine gewisse gesellschaftliche Trägheit und Politikmüdigkeit hinzugesellt. Aber nicht nur das: Viele Chinesen empfinden das System sogar als positiv. Den meisten Chinesen geht es viel besser als ihren Eltern und sie sind sehr zuversichtlich, dass das Gleiche für ihre eigenen Kinder gilt. Sie haben genug zu Essen. Die wachsende Mittelschicht wird immer reicher, hat gute Jobs und kann sich Urlaub im Ausland leisten. Vor 30 Jahren wäre das für den Großteil der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Das wird der Regierung hoch angerechnet und erzeugt eine Grundzufriedenheit, die ausreicht, um die menschenrechtlichen Mischstände im Land auszublenden. Tatsache ist sicherlich auch, dass das System ausgesprochen effektiv funktioniert, vielleicht sogar die einzige Möglichkeit ist, ein Land mit einer derart hohen Bevölkerung erfolgreich zu führen. Keine langsame Bürokratie, sondern schnelle Exekution.
Öffentliche Kritik ist gefährlich
Unerwähnt darf nicht bleiben, dass Rebellen im System keine hohe Lebenserwartung haben. Es ist sehr gefährlich, öffentlich Kritik zu äußeren, wie die vielen inzwischen publik gewordenen Fälle von Gefängnisstrafen für Journalisten zeigen. Es ist ein Leichtes für die Behörden, ein Bankkonto zu sperren und zu verbieten, in die Stadt oder gar ins Ausland zu reisen, denn für alle Fernreisen, auch Bus und Bahn, braucht man seinen Ausweis. Alles was nicht ins System passt, wird unterdrückt, entfernt oder verändert. Dazu gehören auch die vielen in China lebenden Minderheiten. Nach Schätzung der Vereinten Nationen werden mehr als eine Millionen Menschen der Minderheit Uiguren in Lagern festgehalten. In den Umerziehungslagern sollen sie ihrer Religion abschwören. Sie müssen streng bewacht Hochchinesisch lernen, die Nationalhymne singen, KP-Propagandasprüche auswendig lernen und Parteichef Xi Jinping preisen.
Mein geplantes Studienjahr habe ich schließlich auf 6 Monate verkürzt und im verbleibenden halben Jahr China und seine Nachbarländer bereist. Gelernt habe ich in diesem Jahr nicht nur Inhalte für mein Studium und was es heißt, in China zu studieren. Inzwischen kann ich mir ein viel genaueres Bild davon machen was es heißt jung oder alt, arm oder reich, „normal“ oder anders zu sein. So habe ich einen Monat auf einer Farm in Sichuan gearbeitet. Die Familie, bei der ich wohnte, nutzt dieses Gebiet schon seit Jahrhunderten landwirtschaftlich. Die meisten Arbeiter waren über sechzig und haben trotzdem von morgens bis abends geschuftet. Ich habe dabei geholfen einen Baggersee zu bauen. Als ich um 7:30 Uhr an der Baustelle ankam, haben die Bauarbeiter schon zwei Stunden lang Steine geschleppt.
Hier kümmert man sich noch sehr gut um die Arbeiter. Es wird morgens, mittags und manchmal abends in der Kantine zusammen gegessen. Auch wenn sie nicht mehr arbeiten können, werden sie weiterhin mit Essen versorgt. An besonderen Tagen wie dem Drachenbootfestival gibt es ein richtiges Festmahl. Das ist keineswegs normal. Viele alte Menschen leben an der Armutsgrenze, weil sie keine Unterstützung der Regierung oder ihrer Kinder erhalten. Besonders bleibt mir eine Erinnerung von meinem Besuch an einem weit außerhalb Pekings liegenden Abschnitt der chinesischen Mauer. Dort gab es keine Touristen oder Hotels. Ich hatte nur ein paar Kräcker dabei und als ich einer alten Dame mit meinem gebrochenen Chinesisch nach dem Weg zum nächsten Restaurant fragte, gab sie mir ein Brötchen und ein Würstchen aus einem Beutel. Diese habe ich in meinem Nachlager in einem der alten Wachtürme verspeist. Es roch zwar ein bisschen komisch, hat aber fantastisch geschmeckt.
Der Englischlehrer in Yunnan lebt in einer homosexuellen Beziehung und hat viel darüber erzählt, wie viel es in der Gesellschaft bedeutet „normal“ zu sein. Es hat schon große Fortschritte gegeben, aber es wird zum Teil immer noch bei der Wahl der Angestellten oder gar Freunde auf „Normalität“ geachtet. Manchmal hatte ich diesen Eindruck auch in meiner Gastfamilie, denn ein ganz normaler Gaststudent möchte nicht alles wissen, beendet das Studium frühzeitig und reist nicht in die entlegensten Orte. Trotz aller Verschiedenheiten ist mir insbesondere meine Gastfamilie mit Warmherzigkeit und Gastfreundlichkeit begegnet. Die Unterschiede in Kultur und Sprache haben manchmal zu komischen oder unangenehmen Situationen geführt, aber am Ende des Tages waren sie für mich da und haben gut auf mich geachtet.
Zurück in Deutschland weiß ich nicht nur die Bürokratie und die TU Berlin ein wenig mehr zu schätzen, sondern auch wie privilegiert man ist, in diesem Land aufzuwachsen. Die Individualität und Möglichkeiten, die wir alle genießen können, ist ein hohes Gut. Doch wir sind auch nur Menschen, wie es sie überall auf der Welt gibt. Es gibt keinen Grund Vorurteile gegen Menschen anderer Regionen zu hegen. Schlechte Menschen gibt es zwar überall, aber ich habe gelernt, dass nette Menschen auch überall wohnen.
Quellenangabe
Reporter ohne Grenzen (2019, 2. August): Inhaftierte Journalisten in Lebensgefahr. URL: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/china/alle-meldungen/meldung/inhaftierte-journalisten-in-lebensgefahr/ [16.09.2019]
Süddeutsche Zeitung (2018, 10. September): Internierungslager für eine Million Uiguren. URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-internierungslager-fuer-eine-million-uiguren-1.4122300 [16.09.2019]
Über Tim Schröder
Tim Schröder, Jahrgang 1998, studiert seit 2016 Elektrotechnik an der Technischen Universität Berlin. Im September 2018 ging er mit dem Chinese Scholarship Council Stipendium des chinesischen Bildungsministeriums zum Studium an die chinesischen Eliteuniversität Shanghai Jiao Tong und lebte für sechs Monate in einer chinesischen Gastfamilie. Sein Studium beendet Tim Schröder im Jahr 2021 mit Master of Science mit dem Schwerpunkt auf Künstliche Intelligenz und Kognitive Systeme.